Licht an ... Aufbruch ins Leben (German Edition) by Louise von Stein

Licht an ... Aufbruch ins Leben (German Edition) by Louise von Stein

Autor:Louise von Stein [von Stein, Louise]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-05-18T04:00:00+00:00


Kapitel 4

Wir schrieben das Jahr 1955. Ich war fast zehn Jahre alt, und wir wohnten noch in Brüssel, in diesem Haus in der Rue de la Roue, in dem mein Vater mich in jener Nacht alleingelassen hatte.

Mit einer Schneiderin und zwei Näherinnen hatte sich meine Mutter selbstständig gemacht, und auch sie selbst saß von früh bis spät an der Nähmaschine. Deren schnurrende, tackernde Geräusche liebte ich, wenn ich im Nebenraum im Bett lag und allmählich vom Schlaf umfangen wurde. Fühlte mich geborgen. Wusste, Maman war da.

Sie nähte viele Blusen für Kaufhäuser, sie war überaus fleißig, und von außen betrachtet sah alles gut aus. Wir wirkten wie eine junge, aufstrebende Familie, auf dem Weg zum Erfolg. Zu Sicherheit und Wohlstand und Glück. Ein Jahrzehnt nach dem Krieg herrschte überall in Europa Aufbaustimmung.

Nur bei uns … stimmte irgendetwas nicht. Ich war noch zu jung, um es genau zu verstehen, doch ich bekam jedenfalls mit, wie häufig es Streit ums Geld gab, wie meine Mutter meinen Vater anschrie, ich war dabei, wenn sie wütende Lieferanten vertröstete und beobachtete, wie sie Geld versteckte – vor ihrem eigenen Mann? Vor unserem Vater? Und dann kam er und herrschte sie an. Ich hörte oft etwas von „Spielcasino“ oder auch „deine Weiber“. Meine Mutter stieß diese Worte schrill hervor, und mein Vater knurrte wie ein Bär, den Bienen in die Nase gestochen hatten. Er war oft aufbrausend und ihm rutschte schon mal die Hand aus, nur bei mir nicht, denn ich war die Kleine, Zarte, das Nesthäkchen. Meine Mutter und meine Geschwister fingen sich gelegentlich eine Ohrfeige von ihm ein, seinen Sohn legte er auch mal übers Knie.

Einmal hörte ich sogar das sehr bedrohliche Wort „Scheidung“. Ich fragte meine Schwester danach und sie wurde blass, erklärte mir aber nichts.

Wir Kinder spürten alle drei, dass sich über unseren Köpfen etwas zusammenbraute, so unaufhaltsam wie ein Sturm im Herbst.

Eines Abends schwirrte in unserer Familie ein Wort herum, das noch viel, viel bedrohlicher klang als „Scheidung“, und dieses Wort hieß: „Gerichtsvollzieher“.

In rasender Eile packte meine Mutter ein paar Sachen. Verständnislos saß ich dabei. Was war nur los? Wie in Trance ging ich in das Zimmer, das ich mit meiner Schwester teilte, schnappte mir meine Rollschuhe und umklammerte sie. Ich brauchte irgendetwas, woran ich mich festhalten konnte.

Das neue Auto meiner Großmutter stand vor unserer Tür, ein kleiner dunkelgrüner Ford Anglia. Marielle und ich liebten den Wagen, und so erhoben wir auch keinerlei Protest, als wir aufgefordert wurden, ins Auto zu steigen. Es war noch stockfinster, klirrend kalter Dezember. Wir kuschelten uns hinten aneinander, in Decken gehüllt, während die anderen das Auto vollstopften. Mein Vater setzte sich ans Steuer, meine Mutter daneben, Gepäck überall, auch auf dem Dach, der Dachgepäckträger mit einer Plane drüber, mir schien, sie hatten das Notwendigste mitgenommen. All meine anderen Spielsachen!, durchfuhr es mich siedendheiß, doch da fuhren wir schon los. Beinahe alles ließen wir zurück.

Mein Bruder saß auf seiner Vespa, er hätte im Ford keinen Platz mehr gehabt, hinter sich seinen Freund Lukas, der auch mitkam.

Meine Mutter zankte nicht mehr mit unserem Vater, aber dafür weinte sie.



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